Monday 16 March 2009

Peter Singer und die Tierrschutzposition zum geringeren Wert nichtmenschlichen Lebens

von Gary L. Francione Blog

Liebe KollegInnen,

einige Anwälte der Tiere behaupten, es gebe keinen wirklichen Unterschied zwischen dem abolitionistischen Ansatz und dem Tierschutzansatz von Peter Singer.

Ich habe Singers Ansicht in früheren Essays auf dieser Website (siehe z. B.1, 2) und in meinen Büchern und Artikeln in dem Bemühen besprochen, das zu illustrieren, was ich als die wesentlichen theoretischen und praktischen Unterschiede in unseren Ansätzen erachte. Ein weiteres Beispiel zeigt sich in einem kürzlichen Interview mit Singer. Dort sagt er:
Sie könnten sagen, es sei falsch, ein Wesen zu töten, wann immer dieses Wesen empfindungsfähig oder bewusst ist. Dann müssten Sie sagen, ein Huhn oder eine Maus zu töten sei ebenso falsch, wie Sie oder mich zu töten. Ich kann diese Vorstellung nicht akzeptieren. Es mag ebenso falsch sein, aber Millionen von Hühnern werden jeden Tag getötet. Ich kann daran nicht als an eine Tragödie desselben Maßstabs wie an das Umbringen von Millionen von Menschen denken. Was ist anders an Menschen? Menschen sind vorausschauende Wesen und sie haben Hoffnungen und Wünsche für die Zukunft. Dies scheint eine plausible Antwort auf die Frage zu sein, warum es so tragisch ist, wenn Menschen sterben.
Singer formuliert ganz deutlich die Vorstellung des Tierschutzes, dass das Leben von Tieren von geringerem moralischem Wert ist als das von Menschen.

Singers Bemerkungen sind aus mehreren Gründen problematisch. Zunächst unterstellt er, dass Hühner und andere empfindungsfähige Tiere keine vorausschauenden Wesen sind. Ich habe wenig persönliche Erfahrung mit Hühnern, aber ich weiß genug von ihnen, um zu schlussfolgern, dass ihr Verhalten nicht erklärt werden kann, ohne ihnen eine Art von Kognition zuzuschreiben, die dem gleichwertig ist, was wir bei Menschen als vorausschauend bezeichnen. Hühner haben eindeutig Interessen, Vorlieben und Wünsche, und sie vermögen zu handeln, um ihre Vorlieben und Wünsche zu befriedigen. Wenn wir diese Tiere töten, berauben wir sie der Fähigkeit, die Befriedigung ihrer Interessen, Vorlieben und Wünsche zu genießen – gerade so, wie wir das tun, wenn wir Menschen töten.

Ich habe eingehende Erfahrung mit Hunden und kann mit völliger Gewissheit sagen, dass ich erstaunt wäre, würde jemand behaupten, Hunde seien keine vorausschauenden Wesen oder sie hätten keine Hoffnungen und Wünsche.

Die Singers Position zugrunde liegende Voraussetzung ist, dass die einzige Weise, vorausschauend zu sein und Hoffnungen und Wünsche zu haben, die ist, in der Menschen sie haben. Aber dies ist klarerweise eine speziesistische Position. Menschen haben Konzeptionen, die unlösbar mit symbolischer Kommunikation verbunden sind. Die Kognition von Tieren ist höchstwahrscheinlich sehr verschieden von menschlicher Kognition, weil sie sich keiner symbolische Kommunikation bedienen. Aber dies bedeutet mit Sicherheit nicht, dass Tiere über keine gleichwertigen kognitiven Phänomene verfügen.

Zweitens, und wichtiger, ist der moralische Wert, den Singer der Fähigkeit, für die Zukunft zu planen, zuordnet. Was ist mit Menschen mit einem vorübergehenden, umfassenden Gedächtnisverlust? Sie haben einen Sinn ihrer selbst in der Gegenwart, aber sie sind außerstande, sich an Vergangenes zu erinnern oder für die Zukunft zu planen. Wäre es moralisch falsch, sie zu töten? Natürlich wäre es das. Würden wir es als (moralisch oder rechtlich) schlimmer bewerten, eine Person zu töten, die nicht in dieser Verfassung ist? Natürlich nicht. Wir würden beide Tötungsdelikte als gleichermaßen schuldhaft betrachten, weil in beiden Fällen Menschen ihres Lebens beraubt wurden, das für sie von Bedeutung war. Das Leben eines Huhns ist für es ebenso kostbar wie mir das meine oder der Person mit Amnesie das ihre.

Überdies wäre, nach Singers Analyse, das Leben eines Menschen, der mehr Hoffnungen und Wünsche hat, mehr wert als das eines Menschen, der weniger hat. Also ist das Leben eines an Depressionen Leidenden, der möglicherweise nicht besonders erwartungsvoll in die Zukunft schaut oder für diese plant oder das Leben einer Person, deren Hoffnungen und Wünsche sich auf die nächste Mahlzeit oder einen Platz zum Schlafen richten, weniger wert als das, sagen wir eines Princeton-Professors, der jede Menge Hoffnungen und Wünsche für die Zukunft hat.

Singers Bemerkungen spiegeln – einmal mehr – die Ansicht des Tierschutzes wider, dass unsere Nutzung von Tieren nicht das hauptsächliche oder überhaupt ein moralisches Problem ist, weil, dieser Ansicht zufolge, Tiere tatsächlich kein Interesse an ihrem Leben haben. Das heißt, Tierschützer halten an der Auffassung fest, dass Tiere ein Interesse, nicht zu leiden, haben; da sie aber mangels Hoffnungen und Zukunftswünschen kein Interesse an fortgesetztem Leben haben, können wir sie für unsere Zwecke nutzen, solange wir sie ''human'' behandeln. Singer akzeptiert zweifelsfrei das Tierschutz-Prinzip, dass Tiere von geringerem moralischem Wert als Menschen sind. Er verwirft eindeutig, ausdrücklich und wiederholt das Konzept von Tierrechten trotz seines Anspruchs – den er in seinem Interview nochmals erhebt –, er habe ''eine Tierrechtsbewegung zu schaffen'' gesucht.

Singers Aussagen in diesem Interview stellen nichts Neues dar. Er sagt diese Dinge seit Jahren, angefangen von Animal Liberation, einem Buch, dass nicht von Tierrechten handelt, aber Singer den Titel ''Vater der Tierrechtsbewegung'' eingetragen hat. Es ist allerdings nicht weniger als erstaunlich, dass so viele Anwälte der Tiere behaupten, es gebe keine wirklichen Unterschied zwischen Singers Position und dem abolitionistischen Tierrechtsansatz.

Jenen, die die Unterschiede nicht sehen, drücke ich meine ernste und tief gehende Bestürzung aus.

Gary L. Francione
©2009 Gary L. Francione

Nachtrag 22.März 2009

Gestern erhielt ich eine Email mit folgender Bemerkung:
Kürzlich hörte ich einen Vortrag von Peter Singer. Ich war verblüfft und entsetzt, ihn ausdrücklich erklären zu hören, dass Tiere zu töten nicht speziesistisch ist, wenn es schmerzlos geschieht. Ich habe einiges von Ihrem Werk gelesen und lehne diese Behauptung natürlich ab. Ich verließ den Vortrag zornig und enttäuscht. Ist dies wirklich der Autor der ''Bibel'' der ''Tierrechtsbewegung'', der den Menschen erzählt, es ist OK, Tiere zu töten?
Wie ich in dem vorausgehenden Essay feststellte, sollte niemand überrascht oder schockiert darüber sein, dass Singer das Töten von Tieren nicht als per se verwerflich ansieht. Er vertritt diese Ansicht seit mindestens den letzten 33 Jahren – seit er Animal Liberation schrieb. Singer betrachtet das Töten von Tieren nicht als speziesistisch, weil er nicht denkt, dass Tiere ein Interesse am Weiterleben haben, so dass wir ihnen keinen Schaden zufügen, wenn wir sie schmerzlos töten. Wie ich oben (und an anderer Stelle) argumentiere, beruht Singers Ansicht, dass dies nicht speziesistisch ist, auf der eindeutig speziesistischen Voraussetzung, dass Tiere nur dann ein Interesse am Weiterleben haben können, wenn sie über die Art reflexiven Selbst-Bewusstseins verfügen, die wir mit normalen menschlichen Erwachsenen assoziieren.

Was überraschend und schockierend ist, ist der Umstand, dass eine ''Tierrechtsbewegung'' Animal Liberation als '''Bibel' der modernen Tierrechtsbewegung'' anpreist oder Singer als ''Vater der modernen Bewegung für Tiere'' begrüßt und fördert.

Viele kritisieren Singer, weil er seine Sichtweise als ''Tierrechtsposition'' charakterisiert. Das sollte er sicherlich nicht tun, da es nicht zutreffend ist; er weiß das und hat es bei einer Reihe von Gelegenheiten ausdrücklich eingeräumt. Aber die hauptsächliche Verantwortlichkeit liegt auf Seiten von Anwälten der Tiere, die sich augenscheinlich niemals die Mühe gemacht haben, Animal Liberation zu lesen, bevor sie das Buch zur ''Bibel'' kürten und die sich jedenfalls nicht die Zeit genommen haben, kritisch über die Bedeutung von ''Tierrechten'' nachzudenken.

Niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit war eine soziale Bewegung so verdreht.

Gary L. Francione
© 2009 Gary L. Francione